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Beitrag vom 14.01.2018
Wir töten Stella - ein Film von Julian Pölsler nach der gleichnamigen Romanvorlage von Marlen Haushofer (Die Wand) mit Martina Gedeck und Mala Emde. Kinostart: 18. Januar 2018
Tina Schreck
Passivität und unerträgliche Empathielosigkeit - die wohl prägnantesten Missstände unserer modernen Gesellschaft, dargestellt in einer ruhigen, fast banal wirkenden Umgebung, die das sich anbahnende Drama zunächst nicht vermuten lässt.
Ein Jungvogel fällt aus seinem Nest und kämpft ums Überleben. Ungerührt beobachtet Anna (Martina Gedeck) die Szene, ohne einzugreifen. Nein, sie wird ihm nicht helfen. Genauso wenig hat sie Stella (Mala Emde) geholfen und die ist jetzt tot. In zwei schlaflosen Tagen und Nächten will Anna nun ihre Lebensbeichte zu Papier bringen, um so ihre Mitschuld am Tod der jungen Frau aufzuarbeiten.
Trügerische Idylle
Die 19-jährige Stella soll zehn Monate ihres Studiums in Wien verbringen. Leben wird sie bei Anna, ihrem Mann Richard und deren beiden Kindern Wolfgang und Anette. Eine makellose Fassade ihrer heilen Welt bedeutet alles für die gutbürgerlichen Eltern, auch wenn es darunter gewaltig bröckelt. Diese Art der Familienkonstellation erinnert stark an das Haneke-Modell: Indifferente Menschen, die durch ihren Hang zur Passivität und zur totalen Emotionslosigkeit Tragödien heraufbeschwören, einzig und allein, um den guten Schein zu wahren. So ist auch das verstörende Verhalten des pubertierenden Sohnes Wolfgang an Filme wie "Bennys Video" oder "Happy End" angelehnt. Denn auch er filmt gerne die drastischen Abgründe seiner Angehörigen, ohne auch nur einen Funken Empathie zu empfinden.
Die Verwandlung
Der unerfahrenen und komplexbeladenen Stella mangelt es an Selbstbewusstsein. Anna ist es schlussendlich, die ihr durch den Kauf eines figurbetonten roten Kleides ihre Weiblichkeit und sexuelle Wirkung vor Augen führt. Mit monotoner Stimme erzählt sie den Zuschauer_innen rückblickend die Geschichte des gutgläubigen Mädchens. Distanziert, dennoch schuldbewusst nimmt sie Stellung zu den Ereignissen, die unweigerlich zum Tod der jungen Studentin führten. Die äußerliche Verwandlung zieht die Aufmerksamkeit ihres ohnehin untreuen Gatten auf die junge Frau, die sich ihm aus einer Mischung aus Angst und Faszination fügt. Anna ahnt den Betrug, doch anstatt zu intervenieren, beobachtet sie stillschweigend, stets die Contenance wahrend, Stellas Leid.
Die Dialoge im Film sind rar, viel zu wenig haben sich die fungierenden Figuren einander mitzuteilen. Hauptaugenmerk liegt demnach auf dem Monolog Annas, der sich textgetreu am gleichnamigen Roman der oberösterreichischen Ausnahmeautorin Marlen Haushofer orientiert.
Eiskaltes Kalkül
Martina Gedeck, bekannt für ihr perfektes Minenspiel, brilliert in der Rolle der Schein wahrenden Ehefrau, die durch ihr Nichteinschreiten zum Todesengel mutiert. Lethargisch ergibt sie sich ihrem Schicksal: "Die monströse Mischung von Engelsgesicht und Teufelsfratze war mir so vertraut geworden, dass jedes reine, unbefleckte Bild nur mein tiefstes Misstrauen zu wecken vermochte." Die Kraft, sich aus dieser Misere zu befreien, findet sie allerdings nicht. Vielmehr ist die Rede von gütigen Mördern, mutigen Feiglingen oder treuen Verrätern, die sie desillusioniert zu haben scheint. Mit der Schwangerschaft Stellas und der anschließend von Richard forcierten Abtreibung nimmt die Tragödie schließlich ihren unvermeidlichen Lauf. In einem wie ein Hörspiel anmutenden Soliloquium erfahren die Zuschauer_innen die bedrückenden Details, die zum fahrlässigen Suizid der zerbrechlichen Stella führen werden.
Die metaphorische Wand
Das Sinnbild der Wand, gegen die die Protagonistin immer wieder läuft, an der sie nicht vorbeikommt und die sie am Ausbrechen ihres tristen Alltags und des damit verbundenen Leids hindert, wird im Film direkt bildlich übernommen. Wir sehen Anna, wie sie in grotesken Traumsequenzen gegen eben diese unsichtbare Mauer läuft, sich verzweifelt gegen sie presst, den Ausweg jedoch nicht findet. Zu stark sind die inneren Konflikte, die sie am Entfliehen aus ihrer heilen Welt hindern. Mit seiner wortkargen, sehr visuell geprägten Inszenierung gelingt dem Regisseur Julian Pölsler nicht nur ein eleganter Bogen zu dem ebenfalls von ihm verfilmten, auch von Marlen Haushofer verfassten gleichnamigen Roman "Die Wand", sondern auch ein intensives Familienportrait des indolenten Großbürger_innentums, das sich strikt weigert, Verantwortung zu übernehmen. Und obgleich die Handlung hier und da in allzu weitschweifende Langatmigkeit verfällt, ist sie doch Zeugnis vergangener sowie gegenwärtiger sozialer Missstände, deren Indifferenz auf drastische Weise dargestellt wird und wachrüttelt.
AVIVA-Tipp: "Wir töten Stella" ist die düstere, beklemmende Geschichte einer egozentrierten Gesellschaft, in der das Individuum nicht viel zählt. Somit stellt sie ein Plädoyer an das Miteinander dar, das im Film hoffnungslos verloren scheint. Nicht nur für Fans des abgründigen österreichischen Kinos, das einmal mehr unter die Haut geht.
Wir töten Stella
Österreich 2017
Regie und Drehbuch: Julian Pölsler
Darsteller_innen: Martina Gedeck, Matthias Brandt, Mala Emde, Julius Hagg, Alana Bierleutgeb
Verleih: Picture Tree International GmbH / AV-Visionen GmbH
Lauflänge: 98 Minuten
Kinostart: 18.01.2018
Filmwebsite und Trailer: www.picturetree-international.de
Zur Hauptdarstellerin: Martina Gedeck wurde am 14. September 1961 in München geboren. Ihre Schauspielausbildung absolvierte sie an der Hochschule der
Künste (Max-Reinhardt-Schule) in Berlin. Ihr Theaterdebüt gab sie noch vor ihrem Abschluss am Frankfurter Theater am Turm. Darauf folgten Engagements in Hamburg, Basel und Berlin. Für ihre erste Hauptrolle in Jo Baiers "Hölleisengretl" (1995) wurde sie mit dem Bayrischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Nach weiteren Auszeichnungen machte sich die Schauspielerin auch international einen Namen und gewann beispielsweise für ihre Darstellung in n Florian Henckel von Donnersmarcks "Das Leben der Anderen" (2006) den Academy Award als Bester fremdsprachiger Film. Für ihre Rolle als Ulrike Meinhof in Uli Edels "Der Baader Meinhof Komplex" (2008) wurde sie für einen Oscar nominiert. Bereits 2012 spielte sie die Hauptrolle in Julian Pölslers Marlen Haushofer Verfilmung von "Die Wand".
Mehr Infos zur Schauspielerin unter: www.martinagedeck.com
Zur Hauptdarstellerin: Mala Emde wurde am 22. April 1996 in Frankfurt am Main geboren. Von 2009 bis 2012 besuchte sie das Studio für Tanz, Theater & Musik, im Zuge dieser Ausbildung sie in Janusz Glowackis Theaterstück "Aschenkinder" (2010-2012) debütierte. In den darauffolgenden Jahren war sie unter anderem in drei Tatort-Folgen sowie in diversen FS-Spielen wie "Der große Tom" und "Katharina Luther" zu sehen. Zuletzt brillierte sie in Florian Schnells "Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel" (2016) auf der Kinoleinwand. Zudem feiert ihr Film "303" von Hans Weingartner demnächst Premiere. Für ihre Hauptrolle in Raymond Leys Doku-Drama "Meine Tochter Anne Frank" (2015) wurde sie mit dem Nachwuchsförderpreis des Bayerischen Fernsehpreises ausgezeichnet.
Mehr Infos zur Schauspielerin unter: www.imdb.com
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